SOUVENIR. ERINNERN. MONDNACHT. MU RUGO.

                                                

Oft schon meinte Sophie zu mir: “Ich brauche nur meine Augen zu schließen und durch die Räume zu gehen. Die Küche und den Flur, die knarzenden Treppenstufen nach oben, draußen am alten Schweinestall vorbei und mit den Füßen über den unebenen gepflasterten Boden zu laufen - und ich bin dort - und ich sehe auch meine Mutter, wie sie dort steht oder sitzt oder im Garten kniet und ackert. Ich brauche nur die Augen zu schließen und ich habe alles hier“, sagt sie und legt ihre Hände über ihr Herz.

An sie erinnere ich mich, als ich die Zeilen von Ferdinand von Schirach lese. Zwei Männer unterhalten sich über Heimat und Vermissen. Ich denke über Heimat nach, was ich Zuhause nenne und wen ich vermisse. Vor 5 Tagen sind wir für 3 Jahre nach Ruanda gezogen. Als „Ruanda-Quartett“ - als die, die wir bis jetzt geworden sind - alles zwischen 4 und 39 Jahren. Diese Spanne Lebenserfahrung bringen wir mit. Und da stecken wohl noch viele Jahre in uns, von Oma Lina und Oma Ilse, Tante Lilly, Oma Ruth, Karl und Karl-Heinz, Erlebtes und Durchlebtes und gerade so Überlebtes.

 

Wir kommen zurück zu unserem Haus, nach einem kleinen Spaziergang durch unsere neue Hood. „Muzungu“ wurde oft gesagt. "Ja, wir sind sehr hell, sage ich lieber". Schöner als „Weiße“. Lieber beschreiben. Wir haben einiges entdeckt auf unserem Spaziergang. Am Ende, den Mond auf blauem Himmel. Hellster Mond, fast ganz voll, noch nicht ganz, ein Werdender - ja, selbst der Mond hat seine Phasen, wie die Kinder, wie wir. Hellster Mond auf blauem Himmelbild, über grünen Bananenblättern, hinter unserer schönen Klinkermauer. Ja, ich erinnere mich, mit dem Mond, mitten in Ruanda, in einem Dorf 10 Minuten vor Muhanga (kleine Stadt, die leider noch kaum einer kennt) an Zeilen von Eichendorff und Ergänzung von einem deutschen Sing- und Songwriter Jonnes. „Doch in allem lebt mein Heimweh.“ In allem wohnt mein Sehnen. In mir drin. Aus Afrika. Aus Stuttgart. In allem liegt mein Heimweh. Meine Erinnerung. Mein Phantomschmerz der Seele, die sich sehnt und erinnert und ab und zu weinen muss. Und genauso mein Sein und mein Werden. Mein Erleben und Erinnern. Es liegt in mir drin.

Herr Schirach schreibt von zwei Männern. Sie treffen unverhofft aufeinander. Sie unterhalten sich. Über früher. Beide etwas älter geworden. „Ja, die Graugänse“, sagte Harold „an sie denke ich oft. Sie fliegen nach Afrika, der Erdmagnetismus leitet sie. Nächtliche Reisende nannte mein Vater sie.
„Fehlt dir das alles nicht?“ Harold dachte nach. In seinem Gesicht sah ich jetzt den jungen Mann wieder, der er damals war. „Ich glaube, mein Lieber, “ sagte er nach einer Weile. „Nein. Heimat ist kein Ort, es ist unsere Erinnerung.“


Davon spricht sie also, wenn ich sie erzählen höre. Ein reales Zuhause in ihrer Erinnerung? All das Erinnern findet sie in ihrer inneren Heimat. Heimat ist kein Ort. Heimat hat keine Postleitzahl oder Grundstückpreis. Heimat ist unsere Erinnerung. Zuhause. Mu rugo. Heimat ist nicht gleich Haus. Sondern zu Hause.

 


 

Quelle: Ferdinand v. Schirach; Kaffee & Zigaretten, S. 62| Jonnes: "Mondnacht". Album: Unfassbar Nah.

Mu rugo: Nach Hause, Zuhause = Kinyaruanda.

 

 

 

WIR SEHNEN UNS NACH HAUSE. UND WISSEN NICHT, WOHIN?
(Eichendorff)

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Kommentare: 1
  • #1

    Veronika (Sonntag, 26 September 2021 15:38)

    So schön geschrieben! Ja, Heimat ist Erinnerung.
    Ganz liebe Grüße aus eurer alten Heimat in eure neue Heimat!