Eine kleine Geschichte über Gott und die Welt

Ich will euch heute eine kleine Geschichte über Gott und die Welt erzählen:


Rosa und Levi waren spät dran, sie hetzten durch die Straßen, um noch einen Zug nach Hause zu bekommen. Rosa hatte 10h gearbeitet, Levi kam gerade von einer Dienstreise aus Berlin. Es nieselte schon seit Stunden, die ganze Stadt roch nach nassem Asphalt. Die Anzeigetage auf dem Bahnsteig zeigte in monotonen weißen Buchstaben noch 50 Minuten an, bis ihr Zug kommen würde. Levi war genervt und holte sein Handy raus, als Rosa plötzlich direkt neben den Gleisen ein königsblaues Tipizelt entdeckte. Völlig irritiert schauten sich Rosa und Levi an. Wer würde denn an so einem ungemütlichen Ort sein Tipizelt aufbauen.

Da öffnete ein freundlich aussehender Mann um die 70 das reichverzierte Zelt und sagte: "Ist es nicht ein herrliches Wetter für einen warmen Tee? Kommt doch kurz rein, bei der Kälte. Ich habe gerade marokkanischen Minztee gekocht."

 

Eigentlich gehörten Levi und Rosa überhaupt nicht zu der Sorte spontaner Menschen, manchmal erschraken sie über sich selbst, zu welchen Spießern sie über die Jahre doch geworden waren. Aber diesmal siegte die Neugierde, außerdem sah der Alte vertrauenswürdig aus. In der Zeltmitte brannte ein kleines Feuer, auf dem eine Teekanne aus Kupfer stand, auf dem Boden lagen bordeauxfarbene Teppiche mit bunten Verzierungen.
Der Zeltherr forderte sie freundlich auf, es sich doch auf dem buten Kissenberg bequem zu machen. Levi und Rosa merkten schnell, dass die vielen Kissenschichten es einfach nicht zulassen, sich aufrecht und irgendwie angemessen hinzusetzen. Es blieb einem nichts anderes übrig, als sich in das Meer aus Kissen sinken zu lassen. Noch bevor der Minztee fertig war, schlief Rosa ein. Levi, dem das etwas unangenehm war, wollte sie gerade wecken, als der Herr mit den warmen braunen Augen sagte: "Ach, lass sie doch, sie hat sicherlich einen anstrengenden Tag hinter sich. Ich schaue mal eben rasch, wo ich meine Kuscheldecke hingelegt habe." Er kam mit einer riesigen hellblauen Decke, auf der weiße Wolken gestickt waren zurück. Levi musste schmunzeln, er fand die Decke ein bisschen albern.

Der Zeltmann deckte Rosalie liebevoll zu, um dann Levi den heißen Pfefferminztee in kleinen Kristallgläschen zu servieren.

 

Nach kurzer Zeit stand er wieder auf und sagte zu Levi: "Ich hatte schon gehofft heute Gäste zu bekommen, deshalb habe ich frische Zimtschnecken  gebacken." Er kam zurück mit einer silbernen Dose, in der die kleinsten Zimtschnecken lagen, die Levi je gesehen hatte. Das ganze Zelt duftete jetzt nach Zimt und Kardamom. Levi lehnte sich zurück, trank einen Schluck und bemerkte, dass er, so skurril die Situation auch war, seit langer Zeit mal wieder entspannte. Er vergaß seine Emails, die hupenden Autos draußen und genoss den Frieden und die Ruhe, die in dem Zelt herrschten. Irgendwann fragte Levi den Herrn mit dem warmen Lächeln: "Und wie kommt es, dass sie heute ihr Zelt hier aufgeschlagen haben?"
Der Zeltherr strich eine Weile mit seiner Hand über das Fell, das neben ihm lag und sagte dann: "Mein Zelt steht oft hier und jeden Tag lade ich jemanden auf eine Tasse Minztee zu mir ein. Ich liebe es Gäste zu haben. Und dann höre ich mir die Geschichten der Menschen an. Was sie bewegt, was sie umtreibt. Wovon sie träumen und wonach sie sich sehnen. Ich habe viel Zeit, das ist mein Privileg" schmunzelte er. "Die Menschen haben leider nicht so viel Zeit, aber das nehme ich ihnen nicht übel. Weißt du, ich hab sie alle sehr gern" sagte er und legte dabei ein paar Holzscheite auf das Feuer.
"Ich mag die Verkäuferin aus dem Aldi, die ihr ganzes Geld für Diäten ausgibt. Ich mag den Friseur von der Ecke, der immer ein bisschen zu viel mit seinen Kundinnen flirtet. Und ach ja, der Herr von drüben, der vor jedem Date dann doch wieder einen Rückzieher macht, weil er einfach Angst hat, sich zu öffnen. Ich mag die Oma aus Haus 3, die stundenlang über ihre Wehwehchen sprechen kann, weil sie sonst nichts erlebt."


Levi musste lachen und sagte: "Hört sich für mich nicht gerade nach den angenehmsten Gästen an." Die Augen des Alten begannen zu strahlen: "Da irrst du dich! Ich liebe es, sie daran zu erinnern, dass die Welt unglaublich langweilig wäre, wenn alle nur erfolgreich, langbeinig, traniniert und extrovertiert wären. Wenn sie bei mir ihren Tee trinken, dann sage ich ihnen, was ich an ihnen schätze: Ihre zarten Sommersprossen um die Mundwinkel. Ihr herzhaftes Lachen, das mein ganzes Zelt zum Wackeln bringt. Ihre Zeichnungen aus Aquarell. Ihre Ehrlichkeit, die mein Herz berührt. Oft kann ich gar nicht aufhören, damit. Weißt du, ihr Menschen seid nicht perfekt, aber unglaublich liebenswert."


Levi dachte eine kurze Weile über das nach, was der Zeltherr gerade erzählt hatte und sagte dann: "Dann ist dein Zelt vielleicht ein heiliger Ort." Der Alte entgegnete freundlich: "Nicht heiliger, als das Kinderzimmer einer Zweijährigen, in dem die Eltern jeden Abend Gutenachtlieder singen. Nicht heiliger, als das Operationssaal, in dem der Chirurg zu jeder Stunde sein Bestes gibt. Nicht heiliger, als der tägliche Gutenmorgenkuss zweier Liebenden."


Rosa war inzwischen aufgewacht und schälte sich aus dem bunten Kissenberg. Die beiden mussten nun leider weiter, der Zug würde in fünf Minuten eintreffen. Beim Zeltausgang nahm der Alte, mit den warmen Augen, die beiden zum Abschied einfach in den Arm. Rosa konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so herzhaft gedrückt wurde. Vielleicht würden sie dort mal wieder einen Minztee trinken.

 

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