Haymat - Lima, das Oktoberfest und Ricardo

Haymat- mal bewusst anders geschrieben.*

Ein Wort zum Drüberstolpern. Ein alter Begriff, der Synonym für so vieles geworden ist: Bräuche und Sitten. Geteilte Wertvorstellungen und eine gemeinsame Sprache. Oder eher Synonym für einen Ort der Geborgenheit und inneren Frieden?

Heimat - ein Containerbegriff für rechtspopulistische Propaganda, instrumentalisiert durch die AfD und die Identitätere Bewegung. Aber auch ein warmes Wort für die ferne Sehnsucht nach etwas Unbestimmbaren.
Wir wollen uns 4 Wochen lang diesem spannenden Begriff nähern.

Haymat - mal drehen und wenden.


Ich bin 15 Jahre alt und verabschiede mich unter Tränen von meinen Freunden am Stuttgarter Flughafen. Lima heißt das Ziel. Meine Familie und ich ziehen für ein paar Jahre nach Peru. Ich habe schon im Flugzeug Heimweh, gleichzeitig spüre ich eine unglaubliche Neugierde und Vorfreude.
Was wird mich erwarten?


Es ist unangenehm kalt und sehr feucht, als wir endlich ankommen. Trotz der acht Wochen Spanischkurs in Guatemala kann ich meine Klassenkameraden nicht verstehen, weil ich die Jerga (Jugendsprache) nicht spreche. Ich merke schon nach ein paar Tagen, dass ich hier (also dort) für alle nur die Gringa (Westlerin) bin. In Taxis, am Strand, im Supermarkt- überall werde ich mit Stereotypen und teilweise amüsanten Klischees konfrontiert.
Das läuft dann ungefähr so ab: "Du trinkst bestimmt viel Bier, oder? Du bist sicher krasser Bayern München Fan, ne? Du gehst jedes Jahr aufs Oktoberfest und bist sehr reich, nehme ich mal an. Du glaubst bestimmt, dass du was Besseres bist, weil du aus Europa kommst!"

 

Als Teenie irritierte mich das irgendwie, denn ich fühlte mich eigentlich als Weltbürgerin und wurde auch so erzogen. Nun wurde ich aber ständig als Deutsche und Gringa identifiziert, dabei wollte ich gar keine Repräsentantin eines ganzen Nationalstaats sein und überhaupt mag ich kein Bier. Ich bin VFB Stuttgart-Fan und hasse das Oktoberfest.
Ich war 15 Jahre alt und wollte einfach nur dazugehören, nicht immer auffallen, nicht ständig angesprochen werden. Also tönte ich mir die Haare dunkler, lernte die Jugendsprache und Salsa tanzen. Es hat damals lange gebraucht, bis ich das Gefühl hatte, mir wird das Recht eingeräumt dazugehören zu können, ankommen zu dürfen. Neue Heimat zu finden- eben eine Limena, una Peruanita sein zu dürfen, obwohl ich in Stuttgart geboren bin. Zum Glück gab es da Esther, Ricardo, Eric und  Benjamin - für die ich keine arrogante Gringa mit Dollarzeichen in den Augen war, sondern eben Johannita, ihre Hermana (Schwester), wie sie immer zu mir sagten.
Ihre unvoreingenomme Herzlichkeit ließ mich in Peru ankommen. Dazugehören. Mich zu Hause - a casa- fühlen. Eine neue Haymat finden. Sodass ich dann nach ein paar Jahren gar nicht mehr zurück nach Stuttgart wollte.


Viele meiner Freunde, die eine Migrationsgeschichte haben, erzählen mir, dass es ihnen auch so ergeht. Sie sind hier geborgen, sie fühlen sich als Stuttgarter*innen. Sie sprechen besser Schwäbisch als ich und werden täglich gefragt: "Woher kommst du? Und wann gehst du wieder zurück?"
Es wird ihnen suggeriert: Du gehörst nicht wirklich hierher! Nicht zu uns! Sie werden mit Vorurteilen konfrontiert, die um einiges heftiger sind, als die, die ich in Lima erlebt habe. Denn man darf nicht vergessen, dass ich als weiße Deutsche in Peru natürlich auf institutioneller und struktureller Ebene zig Privilegien genießen durfte.

 

Aber wer ist eigentlich dieses kollektive Wir, das sich von den Anderen so unbedingt abgrenzen muss? Wer ist eigentlich Wir?

Wir - die gleiche Religion, dieselbe Staatsbürgerschaft und Kultur. Echt jetzt?! Brauchen wir diese Wir-und-die Anderen-Dichotomie wirklich?
Gregory David Roberts hat mal gesagt: "But the soul has no culture.
The soul has no nations. The soul has no colour or accent or way of life. The soul is forever. The soul is one."


Heimat heißt für mich dazuzugehören - einfach nur, weil ich jetzt gerade hier bin und nicht ständig gefragt zu werden, woher man kommt.
Heimat entsteht durch unsere unvoreingenommene Herzlichkeit, wenn wir Ankommen und Dazugehören ermöglichen, dazu müssen wir endlich diese verstaubte und völlig verkratzte nationalstaatliche Brille abnehmen.

Wir sind eine Weltfamilie.

Weltschwestern und Weltbrüder, die dazugehören wollen.

Die Anderen gibt es nicht.

 

*die Idee stammt nicht von uns, der Begriff kommt aus einem Werbeslogan.

**photo credit: https://www.andbeyond.com/tailormade-tours/a-peru-family-adventure/

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