Umarmen - Deutschland, könnten wir nicht?

 

Dieser Text ist ein Plädoyer.
Vielleicht sogar ein Aufruf. 
Dieser Text ist für die vielen Jugendlichen, die in eine heftige, kranke, oft beschissene Welt geboren werden. Für alle die, die schon oft nicht mehr wussten, wohin. Für alle, die sich nach einem bunten und freien, einem froh- abgedrehten Leben sehnen. Für die, deren Lebenshunger sie schon oft in die verrücktesten Situationen gebracht hat. Für alle Helden mit Zahnlücken und Zahnspangen. Für alle Helden, die auf der Straße wohnen, vielleicht lieber als zu Hause, die sich um ihre Brüder und Schwestern sorgen, für sie kämpfen, weil sie sich selbst schon seit einer Weile aufgegeben haben. Für alle Herzkranken, denen die Hoffnung wie Geld aus der Tasche gezogen wurde. Für alle die, die Fragen haben und nicht wissen wohin damit. Für alle die, die sich durch Maßnahmen der Jobcenter und Agenturen für Arbeit kämpfen. Tapfer und treu versuchen, sich in diesen Sozialstaat zu integrieren. Jung oder alt. Für euch. Die eigentlichen Helden des Alltags. Die Helden unserer Stadt...

 

Bild von Matan Ray Vizel auf Pixabay
Bild von Matan Ray Vizel auf Pixabay


Nora Tschirner sagt in einem  Podcast bei Hotel Matze, über das Wort "sozial": ..."also sozial ist bei uns ein Wort, das nicht mit Inhalt gefüllt ist, es ist mit 'ner Zahlung gefüllt." Sie stellt in Frage, ob wir als Gesellschaft und die Menschen in politischen Ämtern (selbst die, die das 's' in ihrem Namen stehen haben) in der Lage sind, eine "sozial warme Alltagsbegegnung" hinzukriegen. Legitime Frage, finde ich. 


Wir sind in Deutschland. In einem Sozialstaat. Ja, so nennen wir uns.
In Deutschland, in jeder Stadt, in jedem Büro der Jobcenter fällt täglich mehrere Male das Wort "Zuwendung". Als ich in Chemnitz in der Jugendberufshilfe gearbeitet habe las und hörte ich dieses ausgesprochen schöne Wort "Zuwendung" mehrmals täglich. Und da denkst du dir vielleicht: Wie schön, dass in diesem Umfeld, wo doch viele Jugendliche unterwegs sind, die Fragen haben, die an ihrer Familie, ihrer Schullaufbahn oder ihren ganz privaten Herausforderungen schon mehrfach zerbrochen sind, in einem Kontext, in dem Achtung, Respekt und Nähe so enorm wichtig sind - wie schön, dass in genau diesem Kontext das Wort "Zuwendung" ausgesprochen wird.


Hier eine mögliche Definition von "Zuwendung"
"Zuwendungen" sind Gelder, um Menschen ein Leben auf einem soziokulturellen und menschenwürdigen Existenzminimum zu sichern. Gelder mit der Funktion der Grundsicherung. Für Zuwendungen gibt es "Regelsätze, Regelbedarfe und sogar "Regelbedarfsstufen". (Alles geregelt und gesetzt im SGB XII). Hier gibt es auch Ansprüche, Leistungen, Einmal- und Sonderbedarfe und Berechtigungen uvm. 

 

Dieses Wort „Zuwendung“ und seine vielleicht entfremdete Verwendung im sozialstaatlichen Kontext ging mir jahrelang total auf die Nerven. Vielleicht weil dieses schöne Wort absolut einseitig benutzt wird.

 

Eine materielle, finanzielle, soziokulturelle Absicherung mit Hilfe einer staatlichen Zuwendung für ein menschenwürdiges Leben ist fundamental wichtig. Absolut notwendig für das Überleben und vielleicht sogar gelingende Leben eines Jugendlichen in, -sagen wir-, beispielsweise Chemnitz.

Und wie viel wichtiger ist, frage ich mich, ist eine immaterielle, wenn man so will, emotionale Zuwendung, eine Zuwendung von Mensch zu Mensch für das Überleben und vor allem gelingende  Leben eines Jugendlichen?
 

Auch hier, auf der nicht-materiellen Ebene geht es um Grundsicherung. Existenzsicherung auf herzlicher, also auf emotionaler Ebene. Weil "socialmedia", weil die "Likes" dir ein kurzes High verschaffen, aber keiner deiner Follower dir in die Augen blicken kann, während du von deinem scheiß Gespräch mit Person XY erzählst, weil keiner deiner Follower dich in den Arm nehmen kann, wenn sich Innen drin alles schüttelt und dein Herz Kammerflimmern hat. Denn um zu überleben und zu leben braucht jeder Mensch Nähe; braucht jeder Mensch emotionale Zuwendung.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Große Klappe, Zahnlücke; die Fluppe in der Lücke ist aus Tschechien, genauso wie das Crystal, das er ab und an nimmt. Nehmen muss, damit sein Leben an manchen Tagen bunt ist. Heller wird. Aktiver und vor allem froher.
So oder so ähnlich wurde ich fünf Tage die Woche begrüßt. Von Jugendlichen in Chemnitz, die ins Büro der Sozialpädagogen_innen, oft eher verspätet, dafür aber mit Fluppe und meist papsüßem Push-Getränk in ihren Maler- oder Holzarbeitshosen hereingeschlappt kamen. Lebenskluge Jugendliche mit heftigen Biographien. Junge Frauen und Männer, ja fast noch Kinder mit Brüchen und Wendungen, unverdauten Bindungstraumata in ihrer Geschichte.


Erstmal angucken. Erstmal wahrnehmen, welchen Tag und welche Verfassung sie mitbringen? Das war meine Devise, mein täglicher Versuch.
Ist es eher ein Tag, der schon sau mies begonnen hat oder einer, der schon gepusht und „gerettet“ ist, weil die chemische Substanz im Blut schon wirkt? Was bringt ihr mit? An Wünschen, an Fragen, an tiefliegenden Bedürfnissen?
Anstelle der 280-420€uros Zuwendung (aber nur, wenn er oder sie seine aufgetragenen Aufgaben erfüllt!), echte Zuwendung schenken. Wie wäre das? Zuhören. Welches Expertenwissen bringt dieser junge Mensch mit? Was kann ich von ihm lernen? Wie ist seine Perspektive auf das Leben.
Erstmal lächeln und willkommen heißen. Erstmal sich freuen über den Menschen, egal wie schwer sein Rucksack ist, den er mit sich herumschleppt.

 

Umarmen beginnt mit Zuwenden.
Damit, meinen Blick zu schärfen und die Ohren zu spitzen.
Damit, mir im wahrsten Sinne des Wortes einem AUGEN-BLICK für den anderen Menschen, sei er jung oder alt, mit schwerem oder leichtem Gepäck, Zeit zunehmen.
Mein Gegenüber mit einem Augenblick Zeit beschenken.
Ich wende mich bewusst von mir selbst weg und einem anderen zu.

Eine Form emotionaler Zuwendung.

Könnten wir in Deutschland nicht gemeinsam üben, unseren Sozialstaat durch emotionale Zuwendung, durch mini-Augenblicke für andere, reicher zu machen?
Könnten wir in Deutschland nicht üben uns einander zuzuhören? Auch nur für eine "Liedlänge"? Zuhören und mein Ohr und Herz auf den anderen ausrichten?
Könnten wir in Deutschland nicht üben, dieses Wort Zuwendung „ganzer“ werden zu lassen? Dass zu der finanziellen Existenzsicherung eine emotionale Existenzsicherung hinzukommt? 

Könnten wir in Deutschland üben „sozial“ zu leben? Das Wort mit Leben zu füllen? So wie Nora Tschirner sagt "emotional warme Alltags-Begegnungen"  wirkliche Alltäglichkeit werden zu lassen?
So dass das Wort "Zuwendung" nicht nur weiterhin in Jobcentern des ganzen Landes täglich mehrmals fällt, sondern Zuwendung in verschiedensten Formen landesweit gelebt und erlebt wird?

Könnten wir das bitte versuchen?



Das wäre wunderbar.
Das wäre
der Himmel auf
Erden.
(für mein sozialpädaogenherz!)

Nein, dies ist weder eine Anklage gegen das deutsche Sozialsystem, die Jobcenter oder anderen Einrichtungen, die mit Jugendlichen arbeiten, noch ein Appell an unser Helfersyndrom.
Es ist ein Plädoyer für ganze Zuwendung.
Es ist ein Aufruf für ganzheitliche Zuwendung, die weiter reicht als bis zum eigenen Konto und uns als Sozialstaat reicher werden lässt.

 

 


Hier der Link zum ganzen Podcast von Hotel Matze.
Hör' dir alles an; Satz im Kontext hören ist immer besser.
Sehr empfehlenswert.
https://mitvergnuegen.com/hotelmatze/nora-tschirner/

 

 

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