Von der Zerbrechlichkeit des Lebens

Kennst du diese Momente, in denen du so völlig unverblümt mit der Verletzlichkeit des Lebens konfrontiert wirst? Kennst du diese Augenblicke, in denen dir auf einmal bewusst wird, dass das Leben aus zerbrechlichem Ton ist?

Sonntagnachmittag. Ein wunderschöner Herbsttag. Mein Freund und ich sind auf dem Spielplatz, wir passen auf meine Nichte und meinen kleine Neffen auf. Es wird Spätnachmittag. Wir verabschieden uns kurz von Freunden, die aufbrechen wollen. Als die Verabschiedungszeremonie vorüber ist, ist mein kleiner Neffe auf einmal verschwunden. Die ersten Minuten sind wir noch relativ entspannt, vielleicht ist er auf der Rutsche, vielleicht wollte er noch kurz klettern. Aber er ist nirgends auf dem Spielplatz zu finden. Und wir sind in einem Park mitten in Stuttgart, 200 Meter von einem Parkplatz mit Hauptstraße entfernt. Es beginnt zu dämmern. Minuten vergehen und bei mir bricht langsam Panik aus. Was, wenn jemand diesen süßen kleinen Kerl mitgenommen hat? Es gibt sie ja leider, diese Verrückten. Warum sollte so etwas immer nur den anderen passieren? Mein Herz schlägt immer schneller. Wir suchen immer weitläufiger. Ich versuche einigermaßen ruhig zu bleiben, mit meiner kleinen Nichte an der Hand... Aber keine Spur. Wie soll ich das meiner Schwester erklären? Wenn wir ihn nicht finden, werde ich meines Lebens nicht mehr glücklich. Mit jeder Minute schwindet die Hoffnung ihn doch noch zu finden. Ich fühle mich als würde mir jemand den Boden unter den Füßen wegziehen.


Dann irgendwann endlich die Erlösung. Ein Freund findet ihn. Einige hundert Meter entfernt. Der kleine Mister wollte nur Blätter sammeln gehen, sagt er. Ich kann meine Erleichterung gar nicht in Worte fassen. Muss meine Tränen zurückhalten. Bin einfach nur unglaublich dankbar, dass es doch noch einmal gut ausgegangen ist. 

Mir wird auf einmal wieder bewusst, wie zerbrechlich dieses Leben doch ist. Mir wird neu bewusst, dass das Leben aus Ton und nicht aus Stein ist und dass dieser Ton sehr verletzlich ist.

Solche Ereignisse rütteln mich wach. Bin neu aufgewacht. Wacher für die Ehrfurcht vor dem Leben. Vor dem Lebendig-Sein. Vor dem Gesund-Sein. Ich habe neue Ehrfurcht vor dem Zusammen-Sein. Vor dem Sich-Haben.

Ich bin wieder dankbarer dafür. Weil es eben doch nicht selbstverständlich ist, sich zu haben. Nichts ist selbstverständlich. Das wird mir in solchen Momenten wieder neu bewusst.

Ich muss ehrlich sagen, dass ich nach diesem Erlebnis auf dem Spielplatz richtig wütend gewesen bin. Ich habe dem Leben Vorwürfe gemacht: Wie kannst du uns nur so deine Zerbrechlichkeit zumuten? Was hast du dir eigentlich dabei gedacht aus einem so verletzlichen Material zu sein? Weißt du eigentlich wie du dich in solchen Momenten anfühlst? Carambaaaaa!
Du hast ja keine Ahnung, Leben! Mann o Mann!

Manchmal wünschte ich dann, dieses Leben wäre irgendwie robuster, eben aus Stein und nicht aus diesem ätzenden, zerbrechlichen Ton.

Immer noch wütend, will ich trotzdem ein paar Gedanken dazu wagen. Über die Zumutung dieser Zerbrechlichkeit:


Vielleicht ist dieses Leben nicht aus kaltem Stein, damit es berührt werden kann. Von der Schönheit. Von der Wahrheit. Von uns.

Vielleicht ist das Material aus dem wir gemacht sind, so wie es ist, damit es durchlässig ist. Durchlässig für die Liebe.

Vielleicht entscheidet sich das Leben sich verletzlich zu machen, um sagen zu können: Du betriffst mich. Ich bin von dir betroffen. Du berührst mich. Ich bin gerührt von dir.
Vielleicht können wir von diesem Leben lernen, dass es sich verletzlich macht, offen und durchlässig ist. Es wird immer wieder auch zerbrechen, das ist der Preis. Aber die Liebe kann nur durch lebendige Materie dringen. 

 

Und irgendwie ahne ich dann, dass es unter all dem Zerbrechlichen etwas Ewiges, den Ewigen gibt.

Auch Er macht sich verletzlich. Lässt sich von uns betreffen. Berühren. Er ist der, der bleibt. Immer. Der ewig Beständige. 

 

eure Johanna

 

 

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